Von OZ-Mitarbeiter Gregor Buiting
Emden – „Normale Menschen machen mir Angst.“ Diese Aussage steht gelegentlich auf T-Shirts und Aufklebern. Wer am Donnerstagabend die überarbeitete Wiederaufnahme des Theaterstücks „zehn, und jetzt“ durch das Emder Ensemble „Theartic“ im Neuen Theater gesehen hat, der ahnt, was damit gemeint ist. Und er versteht, was Vincent van Gogh meinte, als er die Normalität mit einer gepflasterten Straße verglich, auf der man zwar gut gehen könne, auf der jedoch keine Blumen wachsen.
„Theartic“ zeigte 400 Zuschauern das Leben, seine Vielfalt, seine Freuden, aber auch seine Ungereimtheiten und Absurditäten. Die Protagonisten des Stücks „zehn, und jetzt“ leben ihre Vorlieben und Wünsche ohne umständliches Hinterfragen aus. Das macht sie trotz Unzulänglichkeiten glücklich und zufrieden. Schnell gibt der Zuschauer seine anfängliche Distanz zu den schrägen Vögeln im Scheinwerferlicht auf und beginnt sie zu mögen: den Mittfünfziger, der aller Welt bei jeder Gelegenheit mitteilt, wie glücklich er ist, die junge Frau, die an Jan und Jedermann Briefe schreibt, ohne eine Antwort zu erwarten, den Jüngling, der aus dem Bett minutiös seine eigene Karriere plant.
Diese freundlichen Figuren mit ihren liebenswerten Macken denken ausschließlich positiv und machen das Café, in dem sie sich treffen, zu einem einzigartigen Wohlfühlort. Doch bald wird diese heile Welt unvermittelt gestört. Vier Mitarbeiter vom „Amt für Personen mit besonderen Auffälligkeiten“ weisen die Ahnungslosen darauf hin, dass sie nicht normal sind und fordern sie auf, ihr Leben binnen einer gesetzten Frist so zu ändern, dass es der gesellschaftlichen Norm entspricht. Jetzt ist guter Rat teuer.
Die Regisseurin und Autorin des Stücks Ulrike Heymann – zugleich Vorsitzende der Werkstatt der Künste für sogenannte Behinderte und sogenannte Nichtbehinderte – versteht es, die Perversion der Normalität auf geschickte Weise in Szene zu setzen. Hierzu bedient sie sich des schauspielerischen Mittels der Polarität des Simultantheaters. Sie lässt beide Gruppen gleichzeitig auf der Bühne auftreten und erreicht so, dass die Aufmerksamkeit des Publikums hin und her wandert. Dem zweigeteilten Bühnenbild kommt eine besondere Rolle zu. Eindrucksvoll stellt es unter Einsatz der Beleuchtung die Intimität der privaten, warmen Welt und die phantasielose, kalte Amtswelt gegenüber.
Mehr und mehr schleichen sich bei den Mitarbeitern des Amtes Zweifel ein, nachdem Graumann, einer von ihnen, wegen seiner Bedenken durchzudrehen droht. Sie beginnen mit den vermeintlich Verrückten zu kooperieren. Aus „Schärfer vorgehen! Druck erhöhen! Drastische Maßnahmen!“ wird schließlich die gemeinsame Erkenntnis: „Die Instanz ist verrückt.“
„Die Kranken, das sind die Gesunden. Und die Gesunden, das sind in Wirklichkeit die Kranken.“ Diese provozierende These des Philosophen und Psychoanalytikers Erich Fromm untermauerte die bunte Truppe unterschiedlichster Darsteller am Donnerstagabend in Emden auf eindrucksvolle Weise. Mit Leichtigkeit und erfrischender Komik weisen uns alle Beteiligten unter der fachkundigen und einfühlsamen Regie von Ulrike Heymann darauf hin, dass der genormte Mensch ein Albtraum humanistischen Denkens ist und ermahnen uns, ein wenig mehr Mut zum Verrücktsein an den Tag zu legen.
► OZ-Artikel vom 18.10.2014 zum Download (PDF): Hier klicken!