Emden. Wir sind doch alle verrückt. Und das ist gut so! Mit diesem Gefühl – oder ist es eine Erkenntnis? – entließ das Theaterensemble des Emder Kulturvereins „Theartic“ am Donnerstag das begeisterte Premieren-Publikum der Produktion „zehn. und jetzt“ aus dem Neuen Theater.
Wer glaubte, dass sich die Leistungen dieser Theaterwerkstatt nach den Inszenierungen der vergangenen Jahre nicht mehr toppen ließen, sah sich getäuscht. Trotz einiger widriger Umstände während der Probenphase, die die Regisseurin und Autorin Ulrike Heymann dazu veranlassten, von einem Wagnis zu sprechen, lief das gesamte Ensemble zu neuer Höchstform auf – und machte knapp 400 Zuschauer glücklich.
Zum Glücklichsein fehlt auch den Protagonisten des Stücks nichts: zehn schräge, schrille und liebenswerte Typen, die auf den ersten Blick verrückt, aber – jeder für sich – starke Persönlichkeiten sind. Da sind zum Beispiel Marlene Linde, die ohne Ende Briefe schreibt, Herr Sawesi, der die Wolken Geschichten erzählen lässt, der Actionheld Edelbert Bräunle, der die meiste Zeit betütelt von der Mama im Bett verbringt oder Therese Gärtner, die ihre Fürsorge Gabelstaplern und anderen überzähligen Maschinen schenkt. Alle treffen sich regelmäßig in einem Kaffeehaus.
Ihre Welt ist in Ordnung bis sie mit dem „Amt für Personen mit besonderen Auffälligkeiten“ konfrontiert werden, weil sie nicht „der Norm“ entsprechen. Das Amt repräsentieren vier graue und gleichgeschaltete Menschen, die nur der sogenannten Instanz hörig sind und nicht selbstständig entscheiden. Die grauen Figuren drohen mit „scharfem Vorgehen und drastischen Maßnahmen“. Aber am Ende steht die Erkenntnis, dass alle verrückt sind. Denn was, bitte schön, ist normal?
Schon die Idee zum Buch ist grandios. Aber was „Theartic“ daraus machte, ist noch grandioser: ganz großes Theater, das professionellen Ansprüchen gerecht wird. Die Inszenierung besticht durch die Handlung, die die Zuschauer in ein Wechselbad aus Heiterkeit und Nachdenklichkeit zieht. Das Stück ist bis ins letzte Detail von Kostümen, Requisiten und Bühnendekoration raffiniert konstruiert. Bestechend auch das Bühnenbild: Gespielt wird auf einer Simultanbühne mit zwei Schauplätzen: Auf der einen Seite die graue Amtsstube, in der ein Kaktus und eine grüne Gießkanne die einzigen Farbtupfer setzen; auf der andere Seite das pulsierende Kaffeehaus mit den vermeintlich verrückten Besuchern. Und mitten im Geschehen die vier Musiker, die eine Art Klammer sind, mit teils schrägen, teils harmonischen Klängen von einer Welt in die andere überleiten und diese Übergänge fließend machen: Fantastisch!
Das Ganze stellt hohe Anforderungen an das Ensemble, zumal alle 22 Darsteller nahezu durchgehend auf der Bühne waren und sich kein Akteur im Prinzip auch nur eine Sekunde lang zurücknehmen konnte: eine hoch disziplinierte Leistung.
Ulrike Heymann ist es wieder gelungen, aus einem so schier heterogenen Ensemble von Behinderten und Nicht-Behinderten, aus vermeintlich Normalen und vermeintlich Verrückten eine gleichberechtigte Truppe zu formen.. Die Rollen hat die Regisseurin sorgsam auf die Fähigkeiten der Darsteller zugeschnitten: Jeder Einzelne gab alles, alle strotzten vor Spielfreude und Motivation.
Das war so wunderbar wie die Botschaft des Abends: Wir sind alle verrückt. – und sollten es bleiben.
► OZ-Kritik vom 02.11.2013 zum Download (PDF): Hier klicken!